Bei ihrer Ankunft im Reutlinger Kindergarten wird Mathilda von anderen Kindern umlagert. Mathilda kann nicht laufen, sie hat eine Behinderung. Deshalb sitzt die Sechsjährige im Rollstuhl, ihrem Thron.
In der Garderobe stürmen ihre Freunde auf sie zu. Ein paar Mädchen rufen „Darf ich?“ und zeigen auf den Rollstuhl. Na klar, Mathilda will sowieso raus. Sie spielt mit den anderen Kindern lieber auf Augenhöhe.
Häufig dürfen Menschen mit einer Behinderung zwar „irgendwie mitmachen“, behalten dabei aber stets eine Sonderrolle. Kindergartenleiterin Monika Stiefel und ihr Team wollen verhindern, dass Mathilda ausgegrenzt oder anders behandelt wird.
„So klein war sie damals“: Kindergartenleiterin Monika Stiefel zeigt Fotos von Mathildas erstem Tag. Mit drei Jahren kam sie zum ersten Mal durch die Kindergartentür, auf dem Arm ihrer Mutter Beate (ganz rechts). Die setzte Mathilda rasch auf den Boden, wo sie auf Entdeckungstour an rennenden Kindern vorbei robbte, mitten hinein zwischen tobende Jungs.
Andrea Riehle hilft Mathilda aus dem Rollstuhl. Als Inklusionsassistentin hat sie das Mädchen drei Jahre im Kindergarten begleitet, zwölf Stunden in der Woche. Dabei hat Riehle gelernt, dass sich Erwachsene auch mal raushalten müssen, vor allem beim Spielen.
Mathilda spielt mit anderen Kindern auf dem Podest im Spielzimmer. Ihre kleine Schwester Antonia ahmt ihre Bewegungen perfekt nach. Auch die anderen Kinder haben Spaß dabei, sich auf allen Vieren fortzubewegen. Aber keiner ist so flink darin wie Mathilda.
Im Morgenkreis sitzt Mathilda wie die anderen auf einem der kleinen roten Stühle. Unter ihren Füßen ist ein kleines Podest, das sie stützt – einer der Tricks, die Mathilda den Alltag im Regel-Kindergarten ermöglichen. Ein anderer: Als die Türschwellen ihren Rollstuhl ausbremsten, bastelte ihr Vater eine kleine Rampe für sie.
Nach dem Stuhlkreis hilft eine Erzieherin Mathilda auf den Boden. Die Kinder entscheiden gemeinsam, wie sie die Runde am Ende verlassen. „Ohne Füße!“ rufen sie. Alle Kinder robben auf dem Boden, die Füße in der Luft. Wieder fällt Mathildas Andersartigkeit gar nicht auf.
Zwieback reiben ist eine von Mathildas Lieblingsbeschäftigungen. Es fällt nicht auf, dass ihr Tisch erhöht werden musste, damit der Rollstuhl darunter passt.
Beim Toben denkt keiner ihrer Freunde daran, dass Mathilda eine Behinderung hat. Erwachsene haben manchmal die Sorge, sie könnte sich verletzen. Doch Mathilda hat einen eigenen Kopf. Eines Tages schickte sie beispielsweise ihre Physiotherapeutin fort. „Ich habe keine Zeit, ich muss mein Kostüm fertig basteln.“ Solche Situationen sind ein gutes Zeichen, findet Kindergarten-Leiterin Stiefel: „Mathilda ist eine eigene Persönlichkeit.“
Am Ende des Vormittags sitzt Mathilda zwischen ihren Freundinnen auf dem Boden des Gruppenraumes, die Hände bis zum Handgelenk mit Fingerfarbe bedeckt. Sie hat sich ein riesiges Malpapier zurechtgelegt und ein feucht glänzendes Kunstwerk fabriziert. Auch der Boden hat einiges abbekommen.
Einmal sagte ein Kind zu Mathilda: „Gell, doof, dass du nicht laufen kannst.“ Die Inklusionsassistentin Andrea Riehle hielt den Atem an und unterdrückte den Impuls zu sagen: „Dafür kann sie ganz viele andere Sachen!“ Aber Mathilda sagte nur: „Ja. Blöd.“ Damit war die Situation erledigt. „Wir Erwachsenen können da auch von den Kindern lernen“, sagt Riehle dazu.
Am Ende heißt es, Abschied nehmen. Mathilda kommt nun in die Schule. Die Erzieherinnen und ihre Freunde werden sie sehr vermissen.